Traumarbeit
Interview mit Dagmar Haegele
Frau Haegele, Sie sind seit vielen Jahren eng mit Ihren Träumen und mit Traumarbeit verbunden...
Ja, kürzlich fand ich in einem Notizbuch meiner Mutter das Zitat: „Ich erzähle meinen Träumen immer alles, was ich gesehen habe. Und dann träume ich.“ Als ich das sagte, war ich drei Jahre alt. Ich habe also schon damals darüber nachgedacht, wie es zu Trauminhalten kommt. Mit 14 stieß ich dann im Bücherschrank meines Vaters auf Ann Faraday und Fritz Perls Gestalttherapie. Seitdem schreibe ich meine Träume auf und beschäftige mich damit.
Was sind eigentlich Träume?
Das hängt von der Sichtweise des Einzelnen ab. Wenn ich den Menschen als psychochemisches Wesen betrachte, dann interessieren mich hauptsächlich die neuronalen Vorgänge im Gehirn. Wenn ich jedoch der Ansicht bin, dass der Mensch neben dem Bewusstsein über ein Unterbewusstsein verfügt, ist die Sicht auf das Traumerleben natürlich eine andere. Freud hat ja das Bild geprägt vom Eisberg, dessen sichtbare Spitze das Bewusstsein, und dessen nicht sichtbare Materie das Unbewusste versinnbildlichen.
Ich selbst bin der tiefen Überzeugung, dass es etwas „Größeres“ gibt, das über Zeit und Raum hinausweist und mit dem alles Leben verbunden ist. Manche sprechen vom Höheren Selbst oder von Essenz. Ich gehe davon aus, dass wir ganzheitliche geistige Wesen in einem menschlichen Körper sind und dass die geistige Essenz uns Traumbotschaften schickt, damit wir uns weiterentwickeln.
Es ist schon auffällig, dass wir durch Träume viel von uns erfahren, das über das normale Alltagsbewusstsein hinausgeht und uns besonders in Krisensituationen hilfreich sein kann. Vorausgesetzt natürlich, wir nehmen unsere Träume ernst und verstehen ihre Sprache.
Viele Menschen sagen ja, sie träumten gar nicht.
Sie erinnern ihre Träume nur nicht. Jeder Mensch träumt. Und zwar jede Nacht. Ein 70-Jähriger hat insgesamt 6 Jahre seines Lebens mit Träumen verbracht und ca. 150 000 Mal geträumt.
Ich denke allerdings, dass auch ein Verdrängen der Erinnerung seine Funktion haben kann. Manchmal ist es nutzbringender, die Träume einfach Träume sein zu lassen, und „in Ruhe“ zu schlafen. Es ist beispielsweise erwiesen, dass Menschen in Kriegssituationen kaum Träume erinnern. Eine Funktion haben die Träume dennoch, denn die Hirntätigkeit ist während des Schlafes immer aktiv. Es werden Erlebnisse verarbeitet, Erinnerungen, die nicht mehr von Nutzen scheinen, gelöscht oder umgedeutet, der Alltag erneut durchgegangen. Das ist übrigens auch bei allen Wirbeltieren und den meisten Reptilien der Fall.
Es ist ja bekannt, dass während des Schlafes verschiedene Phasen durchlaufen werden. Wann ist es denn am wahrscheinlichsten, einen Traum aufzufangen?
Man nahm bis vor kurzem an, dass das menschliche Gehirn nur während des REM-Stadiums Träume produziert. Das ist nicht der Fall. Die Träume in der Tiefschlafphase prägen sich nur wesentlich schlechter ein, denn sie sind unspektakulärer und emotionsloser. In dieser Phase des Schlafs werden z.B. Vokabeln oder Nachrichten gespeichert.
Im REM-Schlaf hingegen geht es um Fertigkeiten wie Laufen, Einparken, Tanzschritte…und das sind einfach spannendere Tägtigkeiten.
Man hat auch herausgefunden, dass in den ersten Tiefschlafphasen zu Anfang der Nacht häufig Alpträume von archetypischer Tiefe vorkommen, Träume vom Fallen in dunkle Untiefen oder Ähnliches. Später sind es dann eher Träume mit einer Handlung, deren Aufbau dem griechischen Drama gleicht. Also: Die Darsteller werden erstmal eingeführt, dann entwickelt sich die Handlung, steigert sich und kommt zu einer Lösung.
Man kann aber mit allen Träumen oder auch nur einzelnen Traumbildern therapeutisch und in der Selbstreflexion arbeiten.
Warum ist es sinnvoll, auf die Botschaften der Träume zu achten?
Viele Blockaden im Alltag fußen ja auf Mustern, die sich seit früher Kindheit eingeprägt haben. Gelernte Verhaltensweisen oder Konventionen hindern uns an einem tieferen Blick. Wir wiederholen sie - weil wir nicht anders können. Dabei ist unsere Psyche, oder was ich vorhin Essenz genannt habe, viel weiser und vielschichtiger! Träume können uns den Blick in tiefere Schichten und in Höhere Wahrheiten eröffnen. Oft kommen sie uns gerade dann zur Hilfe wenn wir vor Problemen stehen, die uns unlösbar erscheinen. Im Traum bewegen wir uns jenseits der immergleichen Lösungsansätze und Ideen, die uns im Wachbewusstsein so rasch in den Sinn kommen und die meist kaum mehr hinterfragt werden. In der Botschaft der Träume verbirgt sich hingegen oft eine überraschende Wendung, ein neuer Denk- oder Lösungsansatz.
Sie sind psychotherapeutische Heilpraktikerin und arbeiten auch in ihrer Praxis mit Träumen. Wie gehen Sie vor, wenn ein Klient oder eine Klientin mit einem Traum zu Ihnen kommt?
Wenn ich mit Kliententräumen arbeite, dann ist es eigentlich immer so, dass ich schon einiges über die aktuelle Problematik und den Kontext des Menschen weiß, der mir gegenübersitzt. Träume sind ja immer eingebettet in diese Zusammenhänge.
Es kann sein, dass ich mit einer Klientin, die gleich zu Anfang ihres Traumerinnerns heftig weint, nur an dieser Gefühlsäußerung arbeite.
Einer meiner Klienten ist Maler. Ihn unterstütze ich darin, seine Träume mit den Mitteln zu bearbeiten, die ihm die nächsten sind, und das ist die Malerei.
Ich glaube, dass sich gerade mit den Mitteln der Kunst die feinen Gespinste, das Zarte und Flüchtige der Träume oft besser einfangen und versinnlichen lässt.
Ann Faraday nennt die Träume die Sprache des Herzens und vergleicht sie mit Poesie.
Aber wenn jemand zu Ihnen kommt, dem der künstlerische Zugang nicht so geläufig ist...
Dann gehe ich natürlich anders vor. Zunächst erzählt der Klient seinen Traum. Ich fordere ihn auf, dies im Präsenz zu tun. Ich habe ja einen gestaltherapeutischen Hintergrund und Fritz Perls ging so vor, dass er den Traum auf diese Weise ins Hier-und-Jetzt der therapeutischen Sitzung holte. Oft gelingt das allerdings nicht. Und ich habe beobachtet, dass auch eine Distanz, die durch die Verwendung der Vergangenheitsform entsteht, sinnvoll sein kann, besonders bei emotional stark belasteten Trauminhalten.
Wie die Arbeit dann weitergeht, ist ganz individuell. Was Irvin Yalom in Bezug auf die therapeutische Arbeit sagt, dass jeder Patient eine eigene Therapieform erfordert, sehe ich auch in Bezug auf die Traumarbeit so.
Dabei kommt mir meine vielseitige Ausbildung zugute.
Manche Träume sind zunächst einfach nur Hinweise auf ein Versäumnis im Alltag. Wenn jemand von ausgefallenen Zähnen träumt und tagsüber seine Zahnschmerzen ignoriert, bedarf der Traum keiner weiteren Deutung.
Wenn allerdings körperlich alles in Ordnung ist, kann der Traum eine vollkommen andere Botschaft haben. Ich achte beispielsweise auch auf Wortspiele. Vielleicht hat der Träumer in welchem Bereich auch immer „keinen Biss“...
Ich kann den Klienten auch einen Dialog mit seinem Zahn oder einem anderen Symbol oder Protagonisten führen lassen. Vielleicht erzählt der Zahn, dass er es furchtbar anstrengend findet, nachts immer zu knirschen und dass er sich gerne entspannen würde. Dann ist er gewissermaßen ein innerer Anteil des Träumers, der ihn zu mehr Loslassen auffordert.
Fritz Perls sagte: „Alles im Traum bist du selbst.“
Ja, die Jungianer sprechen da von Subjektstufe. Das ist ein hochinteressanter Ansatz, aber er lässt sich meiner Meinung nach nicht auf alles und jeden anwenden. Wenn ich von einem Mann träume, der mir sehr wichtig ist, liegt die Wahrscheinlichkeit nahe, dass es sich um genau diesen Menschen handelt und nicht um meinen „inneren Mann“. Das wäre mir zu schematisch und unkreativ gedacht.
Gibt es nicht auch eine allgemeingültige Symbolsprache, die in Träumen sich ausdrückt?
Ja, unbedingt! Allerdings halte ich wenig von Symbolbüchern oder Apps, die ein einzelnes Symbol herausgreifen und dem Traum gewissermaßen überstülpen.
So à la: Ich habe von einer Schlange geträumt, also habe ich ein sexuelles Defizit.
Übrigens wird Freuds Traumdeutung dahingehend vielfach missverstanden. Aber auch Freud sah bereits, dass für jeden Menschen dasselbe Symbol unterschiedliche Bedeutungen haben kann, und immer das richtig ist, was für den jeweiligen Träumer stimmig erscheint.
Aber dennoch gibt es doch auch archetypische Symbole?
Ja, in meiner Traumarbeit biete ich immer wieder auch in diesem Sinne Deutungsvorschläge an. Auch hier ist es so, dass die sichersten Wegweiser zur Bedeutung eines Traums das Gefühl und das Urteilsvermögen des Träumers selbst sind. Irgendwo tief in seinem Inneren kennt er die Bedeutung und wenn der Vorschlag taugt, wird er beim Klienten auf Resonnanz stoßen.
Eine fundierte Auseinandersetzung mit der allgemeingültigen Sprache der archetypischen Symbole kann der Arbeit eine andere Tiefe und Bedeutung geben. Diese Dimension hat ja C.G. Jung eröffnet. Interessant ist auch, wie Ortrud Grön arbeitet. Ihr geht es vor allem um eine recht leicht erschließbare Symbolsprache der Natur.
Und Sie kombinieren diese verschiedenen Ansätze?
Ja, wie gesagt, es kommt einfach auf den Traum und die Träumerin an, welcher Zugang der stimmigste ist. Manchmal arbeiten wir in der ersten Sitzung eher direkt am Traumgeschehen und in der nächsten steigen wir tiefer in die Symbolsprache ein.
Zum Beispiel hatte ich eine Klientin, deren Mutter an einer schlimmen Erbkrankheit gestorben war und die im Traum von einem Bären verfolgt wurde. Ich ließ sie den Bären sein, und es stellte sich heraus, dass er ihr nichts Böses wollte sondern eine Botschaft hatte.
Nun ist es so, dass Bären oft für Mütterliches stehen und gerade in diesem Fall: die Tanzbärin...die Mutter hatte „Veitstanz“. Und ihre Botschaft war: Auch mit dieser Krankheit hatte ich ein wildes und schönes Leben. Das brachte eine ganz neue Dimension in den therapeutischen Prozess...
Da handelte es sich erstmal um einen ziemlich furchterregenden Alptraum...
Manche Menschen möchten sich nicht mit ihren Träumen beschäftigen, weil die Traumbilder sie ängstigen. Gerade Alpträume sind ja auf den ersten Blick oft äußerst Angst einflößend. Die Psyche bedient sich hier einer drastischen Sprache. Wenn wir jedoch die Auseinandersetzung mit unseren Ängsten vermeiden, geschieht es immer wieder, dass sich die Traumwelt gerade dann noch lauter und eindrücklicher Gehör verschafft....
Aber wenn wir die Botschaft eines gruseligen Verfolgers ernst nehmen und hören möchten, kommt es vor, dass dieser Verfolger damit seinen Job erfüllt hat und uns in Ruhe lässt.
Es besteht auch die Möglichkeit, sozusagen im Fortgeschrittenenstadium der Traumarbeit, im Traum selbst zu intervenieren und den Verfolger zu fragen. Bei Wiederholungsträumen kann man sich das vor dem Einschlafen vornehmen.
C.G. Jung spricht vom Schatten
Ja, das ist ein wichtiger Aspekt. Dunkle Gestalten in Träumen zeigen uns häufig die eigenen dunklen Seiten, die wir nicht wahrhaben möchten, die aber Energie binden. Erst wenn wir auch diese Seiten integrieren können, werden wir vollständig, „heil“.
Braucht es denn immer eine therapeutische Begleitung bei diesem Heilungsprozess?
Wenn Träume sehr emotionsbeladen und verstörend sind, ist es sicher besser, mit einem Professionellen zu arbeiten. Fast immer ist es aber so, dass die Klienten ja nicht wegen der Träume kommen sondern Probleme mit sich und ihrer Umwelt haben. Das können Depressionen oder Krisen sein, Paarkonflikte, Konflikte am Arbeitsplatz. Die Träume begleiten dann den therapeutischen Prozess sozusagen als Sprachrohr der Essenz, sofern das gewünscht wird.
Es ist aber für jeden Menschen eine Bereicherung, die eigenen Träumen bewusst einzuladen, die Erinnerung daran zu notieren und nach den Botschaften zu forschen.
Auch kleine Bruchstücke, selbst wenn sie uns noch so abstrus erscheinen, können wichtige Hinweise geben.
Ich biete auch Workshops an, in denen Interessierte erfahren können, wie sie sich besser an ihre Träume erinnern können und wie sie selbst damit arbeiten und an ihnen wachsen können.
Frau Haegele, ich danke Ihnen für dieses Gespräch!
Sehr gerne!